Ich sitze gerade vor dem Fernseher. Der letzte Wochenenddienst für dieses Jahr ist geschafft. Meine Bindehautentzündung ist halbwegs abgeklungen. Ich glaube, ich kann später unter die Leute.
Während draußen schon ein paar Überpünktliche mit Silvesterknallern zu Gange sind, gießen wir mal ein Glas Flüssiges ein und stellen ein paar Überlegungen zum Jahreswechsel an.
Nachher versuchen sie wieder alle wie die Wilden, diese Nacht in die Geschichtsbücher zu kriegen. Denn es ist ja Silvester (Menschen, die das mit „y“ schreiben, merken sich jetzt bitte, dass dieser Buchstabe in diesem Wort nichts verloren hat) und das muss schon reinhauen. Da langt keine Ansage wie „wir gehen was essen und dann schauen wir mal in eine Bar“, nein, da gibt es einen Plan.
Ich erinnere mich zu gut an die schönsten ungeplanten Silvesternächte meines Lebens. Sie fanden im Alter von sechs bis zwölf Jahren statt. In dem Alter, für das man die Zahlen in journalistischen Texten noch ausschreibt. In dem Alter, in dem die Raketen und Leuchtfeuer noch etwas Besonderes sind.
Damals war der Jahreswechsel eines der drei Events im Jahr: Geburtstag, Weihnachten, Jahreswechsel. Dreimal fette Überraschung. Papa konnte gar nicht genug Schießereien herbei schaffen (sein prima Argument dagegen, dass man das Geld doch besser an die armen Kinder spenden könnte, fanden wir zu diesem Anlass total deplaziert). Am besten lag dann noch Schnee und kurz vor Mitternacht wurden wir warm in die bunten 90er-Overalls gepackt und durften vor die Tür.
Welch einen Segen doch so ein Leben als Landkind mit sich bringt. Beim ersten Glitzer im schwarzen Himmel schrien wir Kinder so laut vor Freude, dass wir fast das Knallen übertönten. Unsere Mamas standen zusammen da, schmunzelten und passten auf, dass wir uns brav von den Zündeleien fernhielten, die unsere Papas mitten auf der Straße fabrizierten. Diese paar Minuten um Mitternacht, wenn die ganze Nachbarschaft sich traf und für einen Augenblick Rivalitäten um Gartenhäuser, ungeräumte Gehwege und die kleinen Mistigkeiten vergaß – die waren magisch.
So sehr wir auch hofften, dass es ewig dauern würde („Nein Papa, ich weiß genau, dass noch eine Rakete kommt! Wir müssen noch draußen bleiben!“) – irgendwann war das Feuerwerk verglüht. Dann durften wir Kids noch ein Weilchen im Wohnzimmer abhängen und fielen schließlich glückselig in die Kojen.
Am nächsten Tag waren die die Kings, die am meisten Raketensteckerl im Schnee des heimischen Gartens fanden. Mal waren’s wir, mal die Nachbarn links, mal die Nachbarn rechts. Die Überbleibsel der wilden Nacht wurden im jeweiligen Bandenquartier verstaut – und bald vergessen.
Vergessen war auch schon wieder der Jahreswechsel. Neues Jahr? Wurst. Hauptsache, es hat ordentlich gescheppert und geglitzert. Dann kam irgendwann die Zeit, in der man sich – mittlerweile in einem eigens für diesen Abend gekauften Outfit – die ersten alkoholischen Kaltgetränke in den Rachen zwang, weil das Zeug modern war.
Bleigießen feierte seine Glanzzeit, Tabu wurde so lange gespielt, bis wir alle Karten auswendig kannten und der Sand in der Sanduhr verklebt war. Ob zu Hause bei einem von uns Teenies oder in einer müffelnden Mehrzweckhalle … irgendwer kotzte immer (nicht ins Klo), irgendwer musste immer schwer gepeinigt von den Eltern abgeholt werden.
Die fiesen Kater schlichen sich ein, wir erlebten zum ersten Mal, wie sich ein „Brand“ anfühlt und versprachen uns Jahr für Jahr, dass Alkohol nie mehr konsumiert werden würde. Trotzdem oder gerade deswegen waren diese Silvester-Partys legendär. Wir hatten es mit einigen Versehrten aber doch als vollständige Clique ins neue Jahr geschafft. Von der ein oder anderen Feier werde ich noch meinen Enkeln erzählen.
… und dann wurde es plötzlich uncool, Silvester überhaupt zu thematisieren. Wir wussten einfach, dass die guten Vorsätze am fünften Januar eh wieder nachlassen würden, dass die rote Unterwäsche gar kein Liebesglück bringt und dass man das Geld für die Raketen besser in ein richtiges Abendessen investiert. Diese Nacht wurde „völlig überbewertet“,
Fortan suchte man sich als Pärchen irgendeine gemütliche Feierei aus, oder ließ sich als Single zu ebensolchen mitschleppen. Bloß nix Großes, bloß keine Party. Jahr für Jahr sagte man sich, dass einem Silvester eh total egal sei und man „mal gucken“ würde, ob man überhaupt vor die Tür ginge.
Jahr für Jahr war man halt dann doch irgendwo unterwegs, machte sich insgeheim ein bisschen schicker als sonst, maß dem Abend mehr
bei als dem davor. Das „mehr“ war meist ein „mehr“ an Haarspray und Alkohol. Denn verändert hat diese Nacht noch nie was außer die letzte(n) Stelle(n) einer vierstelligen Zahl. Vielleicht war es genau das. Dieses „mehr“, das ungewollt doch mit Erwartungen vollgepumpt war, die nicht erfüllt wurden. Dieses Quäntchen Unterschied zu normalen Feiernächten formt wahrscheinlich die zähe Zäsur, die wir doch zu jeder Jahreswende spüren.
Wann hoffen, wenn nicht in dieser Nacht? Wann rumspinnen, wenn nicht an Silvester? Ob es sich und einen selbst am Ende erfüllt, ist egal, solange man in dem Moment dran glaubt, in dem man es sich wünscht, oder? Ich bin kein Silvester-Fan, aber ich habe es trotzdem noch kein Jahr allein daheim verbracht.
Auch wenn die guten Partys niemals in dieser Nacht stattfinden – ein bisschen Hermann Hesse ist halt doch immer dabei. Ich weiß, dass Silvester als Kind gigantisch toll war, und das wirkt noch nach. Ein wenig glitzern wird es immer. Scheiß auf den Rausch, die Raketen und die Raserei. Klarheit für einen Moment, ein kleines, intensives Kratzen auf der Haut, ein bisschen Schmerz, ein bisschen Erlösung, vielleicht sogar eine Häutung – wenn irgendwas davon in dieser Nacht stattfindet, so hat sie ihre Daseinsberechtigung.
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Die Girls kommen gleich zu einem total entspannten Abend, an dem wir Silvester sowas von thematisieren werden. Wir trinken Prickelzeug, tragen rote Unterwäsche und spielen Tabu, bevor wir uns auf die Straßen wagen und 2015 lauthals willkommen heißen. Ich freue mich so sehr darauf. Wenn es nur halb so gut wird wie 2014, dann kann es gern kommen.
PS: Die Arschkartenverteilung hat bereits stattgefunden und soweit ich weiß, seid ihr alle leer ausgegangen. (<– so schreibt man Horoskope, liebe Horoskopschreiber!)