In diesen Tagen vor den letzten beiden Master-Prüfungen habe ich eine Art Tagebuch geschrieben. Ein einfaches Word-Dokument, in das ich immer meine Gedanken eingetragen habe, wenn ich gerade die Kraft hatte. Hier sind sie.
Montag: Ich will nicht mehr. Ich überlege, ob ich gerade an dem Punkt stehe, an dem mir meine eigene Faulheit ins Gesicht spuckt, oder ob es wirklich die große Belastung ist, die ich mir aufgehalst habe. Ich lenke mich ab und versuche, ein paar Stunden den Kopf frei zu bekommen
–> funktioniert nicht so gut.
Dienstag: Ich starte ungefrühstückt voll durch, komme Mittags wieder an den Punkt, an dem der Suizid eine verlockende Angelegenheit ist. Eine Folge „Sex and the City“ – Samanthas Synchronstimme ist einfach nur perfekt und macht mir Mut, alles lockerer zu sehen.
Ich finde im Internet noch Übungen zur Morphologie, das macht gute Laune. Ich mache alle Übungen erst mal falsch, aber ich merke mir die Fehler. Mein Rücken tut sehr weh. Ich glaube, ich belohne mich mit den Pistol Boots von Acne, wenn die Plackerei vorbei ist.
Sowas motiviert. Ich stelle mich im Winterparka auf den Balkon und atme die eiskalte Luft ein. Zum ersten Mal glaube ich, dass ich den nächsten Morgen ohne Mutlosigkeit überstehen werde. Ich werde vor dem Schlafengehen ein Bad nehmen, jawohl. Und im Bett weiter „Sex and the City“ gucken.
Mittwoch: Guten Tag, es ist 14 Uhr, ich habe die komplette Textgrammatik einmal durch und mein BAMBI-Kleid ist da. Es ist bodenlang, rot und hat Schleifen auf den Schultern. Wahnsinnig Anne Hathaway-esk. Ich probiere es an, es passt sogar und der Ausschnitt ist nicht zu tief. Ich werde toll aussehen. Ganz im Gegenteil zu jetzt, wo ich mit der unförmigsten Jogginghose der Welt verwachsen und seit vier Tagen ungeschminkt bin. Neuerdings ist mir die Note egal, ich will nur bestehen.
Donnerstag: Ich möchte es so gerne hinter mir haben. Tag 4 der Horrortage ist angebrochen, ich quäle mich in den Tag. Ich lese Dürrenmatts Essays und schäme mich, dass ich sie so überfliegen muss, weil der Zeitdruck zu groß ist, als dass ich mich richtig intensiv damit beschäftigen könnte. Ich bin eine schlechte Studentin.
Ich hoffe so sehr, dass ich bestehe. Egal wie, Hauptsache beide Prüfungen bestehen. Es schenkt mir ein bisschen Ruhe, dass ich morgen noch Zeit habe, um im Zug die Sachen zu wiederholen. Alles ist zu viel. Alles ist viel zu viel. Ich will hier weg. Aber kapitulieren gilt nicht, ich bin nicht Physiker Möbius! Na gut, ich habe auch nicht die Weltformel entwickelt. Shit.
Tag 4 ist zu Ende, morgen ist Tag 5, DER TAG! Ich war noch nie so nervös. Normalerweise schmerzt mein linker Arm, wenn ich nervös bin, er wird dann nicht mehr richtig durchblutet. Jetzt tun BEIDE Arme weh. Ich hab solche Angst!
Eure tollen Tipps wie „Entspann‘ dich!“ und „Du musst nur an dich glauben!“ können mich mal. Aber andererseits: Ich habe 5 verdammte Tage meines Lebens vergeudet, um diese Prüfungen zu bestehen. 5! Und deshalb werde ich sie jetzt auch bestehen. Diese Argumentation ist einfach schlüssig.
Freitag: Heute ist DER Tag. Guten Morgen. Wenn ich an Essen denke, muss ich an Kotzen denken. Wenn ich an Kotzen denke, muss ich an die Prüfungen denken. Wenn ich an die Prüfungen denke, muss ich schreien. Es ist 6 Uhr, ich werde jetzte endspurten und dann nach Regensburg fahren. So, jetzt wisst ihr Bescheid.
–> Danach:
Verzweiflung und Glaube haben sich immer abgewechselt. Heute kam die erlösende Mail meiner Dozentin, dass ich es geschafft habe. Master of Desaster. Finally. Zum ersten Mal in meinem Leben ist nach der Prüfung nicht vor der Prüfung. Es gibt jetzt erst mal nichts mehr, wovor ich Angst haben muss oder wofür ich mich aufarbeiten muss.
Ein großer Fehler scheint sich gerade zu ereignen, aber ich halte dagegen. Ich will nicht ohne Pause weitermachen, als wenn nichts gewesen wäre. Ich will mich an diese grausame Woche erinnern, die mich fast in den Wahnsinn getrieben hätte. Um zu realisieren, dass ich etwas geleistet habe, auf das ich stolz sein kann. Um in Freude innezuhalten. Nach den Prüfungen sah ich meine Kumpanen Goethe und Schiller so an und dachte: „Ich kill‘ euch!“ Ich denke aber, wir werden Freunde bleiben. Schließlich haben wir einen langen Weg zusammen beschritten.